1938 - 2017
Konfessionsfreier Seelsorger, ehemaliger Benediktinermönch (1959-2015) und Priester
Zwischenstand
email an die Geschwister
Trier, 12. Juli 2015
Liebe Geschwister,
schon eigenartig, dass ich Euch in dieser kollektiven Form anspreche. Ich habe, soweit das möglich war, jede/jeden von Euch aufgesucht und in meinem gegenwärtigen Entscheidungsprozess mit einbezogen. ... Offensichtlich hat mein Weg nicht nur mit mir persönlich, sondern mit dem Familiensystem zu tun, dem wir alle sieben angehören – und Lebenspartner, Kinder und Enkel mit uns. Und was da in mir an Befreiung geschieht, betrifft und beschenkt dann eben auch alle. So jedenfalls kam es mir bei jeder dieser Begegnungen – auch in dem Telefonat mit .... – entgegen.
Ich möchte Euch ein Signal geben, wie es jetzt, 10 Tage nach meiner Rückkehr in die Abtei, um mich steht. Ich kam am Donnerstag, 09. Juli, gegen 19.30 Uhr ins Haus – Ligia hatte mich von Rüdesheim hierhin gebracht und lud mich unmittelbar vor dem Tor zum Freihof ab. Um 20.00 Uhr schon war das Gespräch mit Abt und vier Senioren. Ich hatte sie vor Antritt meiner Reise ziemlich abrupt mit meiner Entscheidung konfrontiert. Nun erläuterte ich ihnen den psychologischen Hintergrund dazu.
Ihre Reaktion war in etwa: Die Darstellung der Hintergründe ist plausibel, die Konsequenz daraus erscheint voreilig. Der Abt riet, die Entscheidung nochmal im Gespräch mit einem Therapeuten und geistlichen Begleiter zu überprüfen. Ich erklärte mich dazu und zu Gesprächen mit dem Abt und jedem der Senioren bereit. Diese Gespräche fanden dann auch statt. Ich erlebte in mir zunächst, wie die Muster der 55-jährigen Unterwerfung und Anpassung wieder griffen. Ich verlor den Kontakt mit der inneren Klarheit und Dynamik, die mich in den drei Wochen meiner Rundreise erfüllt und getragen hatten, und ließ mich auf die an mich herangetragene Logik ein:
Wenn Du nun frei geworden bist aus den Verstrickungen Deiner Herkunft, dann steht Dir ja auch nichts mehr im Wege, Dich in dieser neugewonnenen Freiheit, ohne Unterwerfung und Anpassung, wieder für den Weg der Nachfolge in und mit der Gemeinschaft zu entscheiden. Entscheidest Dich für das Gegenteil, läufst Du damit nur wieder, in der Gegenabhängigkeit zu dem Bisherigen, in Deine typischen, alten Fallen. Das ist - nach 55 Jahren - gewaltsam und für Dich selbst wie für uns destruktiv.
Ich glaube, ohne die Gesprächsmöglichkeit mit Ligia am Telefon hätte ich aus dieser argumentativen Schlinge kaum herausgefunden. Ligia sah darin das Verhalten von Sekten im Umgang mit austrittsbereiten Mitgliedern. Ich muss sagen: inzwischen sehe ich es auch so. Diese Argumentation sprach mir einerseits die Verantwortung einer freien Entscheidung zu, hielt mir gleichzeitig aber nur eine legitime Entscheidungsmöglichkeit offen. Und aktivierte damit wieder die bis in diese Vorgänge hinein wirksamen Fehlschaltungen aus der Kindheit. Dazu gehören in meinem Fall unter anderen:
- Die Verdrängung und Kompensierung des Schuldbewusstseins beider Eltern nach Kriegsende durch ein religiöses Revival, in das vor allem ...... und ich durch den Beicht- und Kommunionunterricht bei Mutter G. mit einbezogen waren.
- Die Unterwerfung unter das Ethos einer lebenslangen heroischen Trauer, wie Mutter sie in der Bindung an ihren Vater bis an ihr Lebensende in sich trug.
- Das Pathos kreativer Authentizität, mit dem Vater seine Unterwerfung unter dieses Ethos seiner Frau und seine ohnmächtige Revolte dagegen kompensierte (auch noch in seinem dreibändigen Romanwerk!).
In mir als dem „Kronprinzen“ der Familie hat sich das alles im Eifer einer übersteigerten Religiösität, in der Entschiedenheit zu lebenslanger Selbstaufopferung und ihrer kreativen Beschönigung verdichtet. Trotz meiner offenkundigen seelischen Gespaltenheit schaffte ich es damit, bei den Brüdern und vielen anderen den Eindruck authentischer Religiösität, Entschiedenheit und Dynamik zu befestigen.
Erst Ligia hat mich auf diese Gespaltenheit angesprochen und sie mir nicht als tolerierbares Randphänomen, sondern als die eigentliche Herausforderung an mein Leben bewusst gemacht. Dazu bedurfte es einer Wahrhaftigkeit und Unbestechlichkeit, wie ich sie über 55 Jahre in meiner Gemeinschaft nicht gefunden hatte und auch jetzt nicht finde.
Ich stehe nun zum ersten Mal in meinem Leben wirklich frei in der Entscheidung zwischen Ehelosigkeit und Ehe als der Form eines Lebens im Glauben. Ich bezweifle keineswegs: für einen Christen kann es – ohne lebensfeindliche Selbstauslöschung - eine authentische Berufung dazu geben, die Möglichkeit einer ehelichen Partnerschaft zugunsten einer ehelosen Bindung an die Liebe Christi zurückzustellen. Auch zwischen Ligia und mir ist klar: sollte sich an dieser Stelle die Ehelosigkeit neu und authentisch als meine Berufung herausstellen, dann ist dies – und nicht die Perspektive einer ehelichen Partnerschaft mit ihr – die Wahrheit, die für uns beide gilt.
ABER ES ZEIGT SICH MIR DE FACTO ETWAS ANDERES: Wenn ich mich aus den genannten kompensatorischen Motivationen löse, die meinen Weg geprägt haben, - vom Lebensersatz übersteigerter Religiösität, heroischer Trauer und ästhetischer Beschönigung, - dann finde ich in mir und für mich kein Motiv mehr zu einem solchen Verzicht. Zwar bleibt auch dann die Orientierung an der Botschaft Jesu und an seinem Ruf zur Nachfolge. Aber mich erreicht diese Botschaft jetzt als Ermutigung, wenigsten an dieser Stelle meines Lebens aus dem Schatten des Todes, wie er über unserer Familie lag, herauszutreten und das Geschenk eines Lebens, das sich für mich in einer Partnerschaft mit Ligia nun tatsächlich eröffnet, anzunehmen.
Seit mir dies klar geworden ist, bin ich wieder von dem Licht und der Freude, dem Geschmack der Wahrheit und Freiheit erfüllt, die mich auf der dreiwöchigen Reise getragen haben. Ich werde zwar das Gespräch mit kompetenten Begleitern suchen – dafür gibt es ein eigenes Zentrum in der Benediktinerabtei Münsterschwarzach –; aber ich zweifle nicht daran, dass dies meine Entschiedenheit nur noch weiter klären und stärken kann.
Eines ist klar: Auch in Zukunft geht es mir um ein Leben in Antwort auf die Botschaft Jesu und im Dienst seiner Sendung. Ich wünsche mir zwar, mit meinen 77 Jahren im sogenannten „wohlverdienten“ Ruhestand zu leben, also entlastet von den Anforderungen einer beruflichen Tätigkeit. Dies wird in meiner Sicht jedoch nicht einfach eine privatisierende Daseinsweise zu zweit sein. Lebenslang war in mir – neben der Sehnsucht nach der Partnerschaft mit einer Frau – die nach einem Leben in der Stille des Gebetes.
Auch wenn es aussehen mag, als seien diese beiden Blickrichtungen kaum miteinander zu vereinbaren, - die Partnerschaft mit Ligia eröffnet die Möglichkeit dazu: Ligia bringt aus ihrer Verwurzelung in der rumänisch-orthodoxen Spiritualität ein Gebetsleben von einer Tiefe und Freude mit, von der wir im Raum unseres deutschen Katholizismus kaum noch wissen. Seit vier Jahren durfte ich darin ihr geistlicher Begleiter sein. So darf ich hoffen, in der vor mir liegenden, letzten Phase meines Lebens tatsächlich die eine Sehnsucht mit der anderen zu verbinden. Für mich liegt darin so etwas wie der Himmel auf Erden.
Nun bleiben natürlich noch die Fragen, wie es konkret weitergeht: Was, wann, wie. Ich hoffe auf eine faire Lösung der Frage meiner Altersversorgung. Kirchen- und zivilrechtlich habe ich da als ausgetretener Ordensmann, der lebenslang ohne persönlich zugeordnete Arbeitsverträge tätig war, wenig in der Hand. Die Beratung mit einem in diesem Feld kundigen Rechtsanwalt hat ergeben: es kommt auf ein gütliches Einvernehmen mit den Brüdern an. Sie haben es mir eigentlich aber auch schon signalisiert, dass ich mir auch im Falle meines Austretens in diesem Punkt keine Sorge machen solle. Schau‘n wir mal! - Außerdem: zu dem Leben, wie ich es mir erhoffe, brauche ich nicht viel.
Ansonsten bin ich freigestellt von allen Aufgaben und Pflichten; vor allem der Dienst als Klinikseelsorger im Mutterhaus wurde sofort nach Mitteilung meiner Entscheidung beendet. Ich bin also durchaus bereits mit der Abwicklung befasst – der Übergabe der Dienste, die ich wahrgenommen habe, dem Aufräumen von Büro und Schlafzimmer. Ich habe den ganzen literarischen Nachlass von Vater in meinem Büro – der wäre möglichst kompakt, aber doch übersichtlich zu lagern (mir wurde angeboten, dass ich ihn in der Abtei zwischenlagern kann). Und es gäbe noch – als dicker Brocken – das Ressort Anglikanismus und Ökumene in der Bibliothek zu ordnen. Vielleicht lässt sich dies aber nach meinem Exodus ableisten. Ich glaube, mein jetziger ungeklärter Status in der Gemeinschaft tut weder mir noch ihr gut und ist nicht unbegrenzt tragbar. Ich nehme zZt nicht einmal an Chorgebet und Eucharistiefeier teil, weil ich mich da für etwas vereinnahmt fühle, was nicht mehr meins ist.
Ich würde mir, wenn es soweit ist, eine Wohnung in Rüdesheim suchen, wo Ligia wohnt. Eine Single-Wohnung, damit Nähe und Distanz sich frei einspielen können. Ligia hat (als deutsche Beamtin) noch acht Jahre aktiven Dienstes am statistischen Bundesamt in Wiesbaden vor sich. Nach dieser Zeit wird sich noch einmal die Möglichkeit von Entscheidungen für den weiteren Weg auftun – die Frage nach dem endgültigen „Alterssitz“.
Jetzt weiß ich natürlich nicht, ob alles, was ich hier geschrieben habe, für jeden/jede von Euch genießbar war – wir haben ja (zum Glück) sehr unterschiedliche Sprachen und Weisen, das Leben zu deuten. Da stehe und bleibe ich bewusst und gerne im kirchlichen Raum – durchaus im Wissen um die furchtbare Missbräuchlichkeit aller frommen Worte und aller heiligen Zeichen (und darum auch mit Verständnis und Sympathie für alle, die mit solchen Worten und Zeichen nichts zu tun haben wollen).
Für mich ist wesentlich, dass die Wahrheit, die darin angesprochen ist, sich in jedem menschlichen Leben, ja in jeder einzelnen Äußerung menschlichen Lebens wiederfindet, sodass wir uns alle – mit dem Ganzen der Menschheitsfamilie – in einem einzigen Lebenszusammenhang befinden. Da hat jeder seine Weise und seine Zuständigkeit, zwischen wahr und unwahr zu unterscheiden.
Noch ein kurzes Wort zu den Eltern, die ich hier ja nur als Problem und Belastung habe auftreten lassen. X. sagte mit Recht: Wir sind selbst verantwortlich, wie wir mit der Mitgift unserer Eltern umgehen. Wir tun ihnen und uns unrecht, wenn wir uns einfach zu ihren Opfern machen. Meine Erfahrung ist: indem ich meine Freiheit erkenne, aus den Schatten ihres Lebensschicksals herauszutreten, löse ich sie auch mir gegenüber aus ihrer belastenden Rolle. Da wird aus der kompensatorischen Religiösität der Nachkriegsjahre die Orientierung an der lebensbejahenden Botschaft Jesu, aus der entschiedenen Opferbereitschaft der Mutter der Mut zu klarer Entschiedenheit, aus der Revolte und dem kreativen Zorn des Vaters die Kraft, einen neuen Weg zu gehen. So habe ich sie durchaus beide jetzt auf meiner Seite. Und dazu Euch – tatsächlich jeden/jede von Euch, die Ihr ja alle schon vor mir Euren Weg aus diesen Belastungen gefunden habt. Ich war Y. so dankbar, als selbst sie (es gab in jeder Begegnung auf der Reise so eine Wendung) am Telefon sagte: „Da ist der Vater aber dabei.“ Ganz klar. Und nach dem Gespräch mit X. war uns beiden klar – sie auch: diese Mutter.
Es ist nicht nur die private Familiengeschichte, die sich da abspielt. Es spiegelt sich die Tragik ganzer Generationen der deutschen Geschichte darin, wenn nicht archetypische Konflikte von unabsehbarer Tiefe. Es waren Eltern, die sich lebenslang in einem Auftrag wussten. Und ihn – wo sie ihn nicht vollenden konnten – an uns weitergegeben haben. Für mich liegt in dem Weg, der sich vor mir auftut, die Antwort auf die über unserer Familie lastenden Schrecken des Krieges (grundsätzlich wie konkret: des Ersten und Zweiten Weltkrieges), gelebte Antwort aber auch auf die so unlösbar sich miteinander verstrickenden Konflikte der heutigen Welt.
Auch wenn dies sicher nicht für jeden von Euch nachvollziehbar ist - ich sage es jetzt doch einmal in der (Fremd-)Sprache des Paulus, weil es sich nicht anders sagen lässt: die Antwort, um die es mir da geht, ist die der Ohnmacht Gottes in dieser Welt – der Ohnmacht seiner Liebe, die uns am Kreuz Jesu ihre Wahrheit und ihre ALLes verwandelnde MACHT offenbart.